Christen jüdischer Herkunft:
Erst getauft, dann im Stich gelassen
und verraten. Die Verantwortung der evangelischen Kirche im
Nationalsozialismus geht weit über unterlassene Hilfeleistung
hinaus. Der Berliner Stadtsynodalverband gründete 1936 die
Kirchenbuchstelle Alt-Berlin. Unter der Leitung des Pfarrers Karl
Themel wurde hier in Zusammenarbeit mit der Reichstelle für
Sippenforschung und der Polizei gegen Christen mit "nichtarischer
Abstammung" ermittelt.
Deportiert, ermordet, in den
Selbstmord getrieben. Ehrenamtliche aus zwölf Kirchengemeinden
begaben sich auf die Spurensuche. Sie fanden die Namen von mehr als
dreihundert Gemeindegliedern, die in der Shoah umgebracht wurden.
Biografien von Einzelnen wie auch von ganzen Familien wurden in
unterschiedlichem Umfang rekonstruiert.
Predigten der Jahre 1938, 1978 und 2002 dokumentieren zudem die
unterschiedlich akzentuierte Auseinandersetzung mit Schuld und
Versagen gegenüber den Juden und den Christen jüdischer Herkunft.
"Evangelisch getauft als Juden
verfolgt. Spurensuche Berliner Kirchengemeinden" - Unter diesem
Titel erscheint zum 9. November dieses Jahres, dem 70. Jahrestag der
„Reichskristallnacht“ am 9. November 1938, ein Buch, das den über
3.000 getauften Juden in zwölf Berliner Kirchengemeinden gewidmet
ist. Von diesen über 3.000 Menschen wurden über 300 deportiert und
umgebracht.
Der 9. November 1938 ist ein
denkwürdiger Tag in der Deutschen Geschichte. Er war das Signal für
den Holocaust. Er ist aber auch ein Zeichen für das Versagen der
Kirchen im 20. Jahrhundert. Die Kirchen haben nicht widerstanden,
als die Gotteshäuser der Juden brannten. Ja, sie haben es versäumt,
selbst diejenigen vor dem Staat und seinen Institutionen zu
schützen, die durch ihre Taufe zur christlichen Gemeinde gehörten.
Jahrzehntelang wurde eine
Erinnerungsarbeit nicht geleistet. Den Anstoß für diese mehr als
überfällige Arbeit gab Bischof Huber mit seiner Bußtagspredigt im
Jahr 2002, in der er die Gemeinden zur Gedenkarbeit aufrief.
Im Landeskirchlichen Archiv in Berlin entstand 2005 unter Leitung
von Dr. Wolfgang Krogel und seiner Mitarbeiterin Gerlind Lachenicht
der Arbeitskreis „Christen jüdischer Herkunft“, in dem sich
Theologen und Ehrenamtliche aus zwölf Gemeinden ans Werk machten und
nach Spuren dieser vergessenen Menschen suchten, um Biographien
wenigstens bruchstückhaft zu rekonstruieren.
Die Arbeit löste bei allen Autorinnen
und Autoren neben Beklommenheit völliges Unverständnis und auch Zorn
über die Akteure der damaligen Zeit aus. Besonders empörte das
Verhalten des Pfarrers Karl Themel, der sich als Mitglied der NSDAP
den damaligen Kirchenoberen empfahl und unter anderem eine
sogenannte „Fremdstämmigenkartei“ in der Kirchenbuchstelle
Alt-Berlin aufbaute.
Für den damals erforderlichen
Ariernachweis waren Informationen über die Abstammung der Menschen
notwendig, die mindestens bis zu den Großeltern, für SS- und
SA-Mitglieder sogar noch weiter zurückgingen. Da
Personenstandsregister, also Standesämter, erst ab 1874 eingerichtet
wurden, konnten diese Abstammungsnachweise nur über die
Nachforschungen in Kirchenbüchern erbracht werden. Zu diesem Zweck
ließ Karl Themel Angaben von vor 1874 aus den Kirchenbüchern
verkarten und zwar in zweifacher Ausfertigung: eine Ausfertigung für
die Kirchenbuchstelle und eine Ausfertigung für das Reichsamt für
Sippenforschung. Damit waren dem Staat Christen jüdischer Herkunft
ausgeliefert, und sie fielen der rassenpolitischen Verfolgung zum
Opfer. Die Kirche hat als Institution, aber auch in vielen Fällen
bis auf die Ebene der Gemeindekirchenräte, die Ziele des Staates in
aller Konsequenz mitgetragen. Wer sich mit der Kirchengeschichte der
Weimarer Republik und des NS-Staates befasst, muss erkennen, dass
die Zahl aufrechter Widerständler in der Kirche nur gering war und
diese Menschen Repressionen, Verhaftungen und auch dem Tod
ausgesetzt waren.
Die Ergebnisse unserer Recherchen
finden sich in diesem Buch. Es ist ein Buch der Erinnerung, das den
Gemeinden Gelegenheit geben soll, über die Stellung der Institution
Kirche nachzudenken. Für die Autorinnen und Autoren hat es den Blick
für dringende Buße geöffnet.
Hildegard Frisius
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