Die Verfolgungsgeschichte von Personen jüdischer und teiljüdischer Herkunft in der NS-Zeit
und ihre generationsübergreifenden Auswirkungen
Tagung in Berlin 6. bis 8. März 2009

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Abstracts:

Vorträge     Parallelveranstaltungen     Abschlussdiskussion


Vorträge

Beate Meyer

Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburg

Die Verfolgung „jüdischer Mischlinge“ 1933 – 1945 – Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung

Der Vortrag wird einerseits einen Überblick über die staatlichen Maß­nahmen bieten, von denen die verschiedenen Jahrgänge der „Mischlinge“ während der NS-Zeit betroffen waren. Zum anderen versuche ich herauszuarbeiten, mit welchen Strategien die Betroffenen den jeweiligen staatlichen Ver- und Geboten, aber auch der gesellschaftlichen Ausgrenzung und Diskriminierung begegneten. Es geht um „jüdische Mischlinge“ als Grenzgänger zwischen scheinbarer Normalität und drohender Verfolgung, um ihren Kampf, Teil der Mehrheitsgesellschaft zu bleiben und trotzdem als Schutzschild für den jüdischen Elternteil wirken zu können.   

[Frau Beate Meyer konnte leider nicht auf der Tagung persönlich sprechen; ihr Vortrag wurde verlesen und diskutiert.]

 

Johannes Heil

Prof., Dr. phil., Historiker, seit Sept. 2008 Leiter der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg

Der unsichtbare Jude“ – Konversion, Säkularisation und die Phobien des modernen Rassismus

Sie müssten sich nur taufen lassen, "deutsch werden" oder auf sonstige Weise ihr Jüdischsein ablegen, dann sei alles gut. Das suggerierten Judenfeinde ihrem Gegenüber, in fernen Zeiten unter religiösen Vorzeichen, in Neuzeit und Moderne dann immer stärker im Ergebnis kulturell-natio­nalistischer und rassistischer Schemata. Johann Pfefferkorn im 16. Jahrhundert, Heinrich Heine im 19. Jahrhundert oder "nichtarische Chris­ten" im 20. Jahrhundert mussten dann aber rasch erfahren, dass alle Bekenntnisse zu Taufe und/ oder Nation nichts fruchteten und keine Taufe ihr Jüdischsein in den Augen ihrer Umwelt wirklich "abwaschen" konnte. Gestandene Judenfeinde wie Eugen Dühring (1833-1921) schreckte der Gedanke an "unsichtbare Juden" noch mehr als der Anblick eines Juden (bzw. des dazu selbstgefertigten Konstrukts). Der Vortrag bietet entlang historischer Texte und Bilder einen Überblick über die prekären Zwischenexistenzen, in denen sich gezwungene und freiwillige Konvertiten wiederfanden. In den Quellen spiegeln sich persönliche Dramen, aber auch die Kontinuitäten, Radikalisationen und Wandlungen in den Wahrnehmungen und Reaktionsweisen der Umwelt. Sie tragen wesentlich zum Verständnis der Situation "nichtarischer" Christen in der Zeit des Nationalsozialismus und ihrer über 1945 hinaus reichenden Marginalisierung, etwa in Fragen von Unterstützung und Entschädigung von NS-Opfern, bei.

 

Kurt Grünberg

Dr. phil., Dipl.-Psych., Dipl.-Päd., Psycho­analytiker (DPV), Sigmund-Freud-Institut, Jüdisches Psychotherapeutisches Beratungszentrum, Frankfurt a. M.

Zur intergenerationalen Tradierung extremen Traumas – Szenische Erinnerung der Shoah

Das extreme Trauma führt auf spezifische Weise zur Fragmentierung von Erinnerungsspuren, die sich als "eingekapselte Erinnerungen" wie Krypten in das Seelenleben der Verfolgten eingraben. Die Nachkommen der Opfer sind gewissermaßen dafür prädestiniert, die dissoziierten Erinnerungsfragmente ihrer Eltern im Sinne einer unbewussten Reassoziierung zu Szenen zusammenzufügen, was nicht zuletzt als Hinweis darauf verstanden werden sollte, dass das extreme Trauma notwendigerweise die Generationengrenzen überschreiten muß. So sind es nicht die Schilderungen der Verfolgungserfahrungen der Überlebenden allein, die eine Rekonstruktion des Extremtraumas ermöglichen, sondern erst die dazu gehörenden fragmentierten Affekte und Phantasien der Zweiten Generation machen es möglich, der Realisierung des Traumas der NS-Verfolgung näherzukommen, mit Hans Keilson dahin zu kommen, "wohin die Sprache nicht reicht".

 

Parallelveranstaltungen 

 

Jürgen Müller-Hohagen

Dr. phil., Dipl.-Psych., Psych. Psychotherapeut, Leiter der Erziehungs- u. Familienberatungsstelle München Hasenbergl, Geschäftsführender Vorstand des Trägervereins (Diakonie Hasenbergl e.V.), Dachau

Ewiger „Halbjude“? – Zur Fortdauer von Nazi-Konstrukten in den Köpfen von Leuten aus der gesellschaftlichen Mitte

Die in der NS-Zeit so verhängnisvolle Begrifflichkeit „Halbjude“ hält sich bis auf den heutigen Tag. Dies gilt auch für Menschen, die weit entfernt sind von rechtsradikalen Einstellungen. Das ist sehr eigenartig. Oder möchte vielleicht jemand als „Halbchrist“ bezeichnet werden, als „Halbfrau“ oder „Halblehrer“? Bei Licht und mit nur ein wenig klarem Verstand betrachtet, könnte schon von dieser einfachen Überlegung her die Bezeichnung „Halbjude“ als ausgesprochen gedankenlos oder auch dumm erscheinen. Angesichts der NS-Verbrechen, mit denen dieses Wort untrennbar verbunden ist, tun sich noch im Heute Abgründe auf. Das soll in dem Workshop Ausgangspunkt zum Reflektieren sein.

Wichtige Punkte dabei sind:

·   Wer definierte den Begriff „Halbjude“ und seine Anwendung?

·   NS-Kontinuitäten nach 1945

·   Dies nicht nur bei Rechtsradikalen

·   Verleugnung

·   Tabuisierungen

·   Fragmentierte Wirklichkeiten

·   Bedeutung von Selbstreflexion

·   Fehlleistungen: Zugänge zu einer deutschen Unterwelt

·   Beispiele

·   Kontrastprogramm: Zehn Jahre psychologische Begleitung einer Gruppe von Menschen mit

    jüdischem und nichtjüdischem Elternteil

·   Verbeugung vor Sigmund Freud

Diese Tagung findet nahe am Ort der so genannten Wannseekonferenz statt. Museen, Ausstellungen, Gedenkstätten zur NS-Geschichte sind eine Seite des Erinnerns. Ein an­­derer Zugang kann sich beim Blick nach innen zeigen. Das soll hier im Mittelpunkt stehen. Aber beides gehört untrennbar zusammen.

 

Gerd Sebald

Dr. phil., Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Soziologie

Die familiale Tradierung von nationalsozialistischen Identitäts-Zuschreibungen   
Eine generationsübergreifende Rekonstruktion einer teiljüdischen Familiengeschichte

Im projektierten Beitrag aus dem Projekt "Soziale Erinnerung in differenzierten Gesellschaften" analysieren wir die Tradierung der nationalsozialistischen Zuschreibung von teil­jüdischer Identität in einer Familie über drei Generationen hinweg. Trotz (oder wegen) der resoluten Dis­tanzierung der überlebenden Zeit­­zeugin von dieser Zuschreibung und damit eventuell verbundenen Identitätspotentialen kommt das Thema in den nachfolgenden Generationen immer wieder an die Oberfläche der Familienkommunikation. In der Fall­rekonstruktion analysieren wir diese Tradierung anhand von Einzelinterviews in drei Generationen und einer Gruppendiskussion vor allem unter dem Blickwinkel der Generationengrenzen.

 

Monica Kingreen

wiss. Mitarbeiterin am Fritz Bauer Institut, Bereich: Pädagogik und historisch-poli­ti­sche Bildung, Frankfurt a. M.

Hartmut Schmidt

Mitinitiator des "Projekts zur Erforschung und Erinnerung an das Schicksal evangelischer Christen jüdischer Herkunft in der NS-Zeit" in der EKHN und EKHW

Doppelvortrag:

Tödliche Verfolgung von Christen jüdischer Herkunft in der Rhein-Main Region   Umgang der Evangelischen Kirche Hessen-Nassau mit ihren „nichtarischen“ Mitgliedern in der NS-Zeit und nach 1945

Der Vortrag wird sich zunächst mit der Einführung des Arierparagrafen in der nassau-hessischen Landeskirche und deren Umgang mit ihren „nichtarischen Pfarrer“ befassen. Zu unterscheiden davon ist der Umgang mit den „nichtarischen“ Kirchenmitgliedern, wo es außer dem Ausschluss dieser Getauften aus der Kirche (Januar 1942) keine weiteren kirchenoffiziellen Verlautbarungen gab. Auch in der späteren Geschicht­schreibung bleibt diese The­matik unerwähnt. Erst jüngste Zeitzeugengespräche und ein gefundener Archivbestand der 1946 gegründeten Frankfurter „Hilfsstelle für ehemals rassisch verfolgte Christen“ lässt die gesamte Personengruppe der „Christen jüdischer Herkunft“ greifbar werden und auch kirchliche Netzwerke zur Hilfe für diese Menschen erkennen. (Hartmut Schmidt)

In Frankfurt und im Rhein-Main Gebiet verfolgte die Gestapo nach Abschluss der Massendeportationen ab Herbst 1942 bis Mitte 1943 systematisch die als jüdisch klassifizierten Partner sogenannter „Mischehen mit Ariern“. Diese umfassende „Aktion zur Liquidierung der Misch­ehen“ bzw. zur „kalten Erledigung der Mischehen“ – wie es Betroffene damals ausdrückten – ist im Deutschen Reich singulär. Die Verfolgung in Frankfurt und Umgebung führte im Gegensatz zu anderen Regionen in Deutschland nach Inhaftierung vor Ort zur Verschleppung nach Auschwitz und zur Ermordung von etwa dreihundert Menschen. Der Vortrag wird Kontext und Struktur dieser spezifischen Verfolgung sowie die Reaktionen der Verfolgten aufzeigen. (Monica Kingreen)

 

Jana Leichsenring

Dr. phil., z. Zt. Wissenschaftliche Leiterin des DFG-Projektes „Kritische Online-Edi­tion der Nuntiaturberichte von Eugenio Pacelli (1917-1929)“ an der Katholischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

Katrin Rudolph

Dr. phil., bis Nov. 2008 Vikarin der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schle­sische Oberlausitz

Verfolgung von Christen jüdischer Herkunft. Die Berliner Situation:  Entscheidungsspielräume kirchlichen Handlungsträger zwischen Legalität und Illegalität

Anknüpfend an die Ausführungen Beate Meyers zur Konstruktion des Begriffes „Jüdischer Mischling“ werden sich Katrin Rudolph und Jana Leichsenring der Situation zuwenden, wie sie die Verfolgten­grup­pe in Berlin vorfand. Neben Frankfurt/Main, Breslau und München lebten in der Deutschen Reichshauptstadt die meisten derjenigen, die von den Nationalsozialisten unabhängig von ihrem konfessionellen Selbstverständnis als „Nichtarier“ und „Mischlinge“ verfolgt wur­den. Entsprechend der konfessionellen Be­völkerungsstruktur gehörte ein großer Teil der Verfolgten der protestantischen Kirche an, ein geringerer Teil war katholisch. Anfangs bemühte sich jede Konfession um ihre eigenen Mitchristen, wobei auf die jeweiligen Verfolgungsmaßnahmen von der Institution der Kirchen mehr oder weniger reagiert wurde, Weitsichtigkeit hingegen oftmals nur auf den unteren Ebenen zu beobachten war.

Mit zunehmender Radikalisierung des Verfolgungsprozesses sahen sich die institutionell kirchlicherseits Verantwortlichen zu größerem Engagement berufen, das aus der Verfolgungssituation heraus sogar konfessionelle Schranken überwand. Beide Konfessionen schufen Hilfsein­richtungen, die im Sinne der Klientel zusammenarbeiteten, und deren Aufgaben in der Seelsorge und in der Auswandererunterstützung bestanden. Das Jahr 1941 bedeutete nicht nur eine Zäsur für die Verfolgten mit dem Beginn der Deportationen. Es war zugleich ein Wendepunkt kirchlicher Hilfeleistung für die Verfolgten. Auf protestantischer Seite war mit dem Verbot der institutionellen Hilfe legale Unterstützung nicht mehr möglich. An ihre Stelle trat das Bemühen Einzelner, auf illegalem Wege den Betroffen beim Überleben zu helfen. Auf katholischer Seite bemühte man sich, die Institution zu retten und handelte möglichst legal. In erster Linie wurde hier Hilfe zur Selbsthilfe vermittelt - und dies beim Gang in die Deportationen. Diese beiden unterschiedlichen Pers­pektiven werden von Rudolph und Leichsenring jeweils im Wechsel erläutert. Vorgesehen ist eine chronologische Betrachtungsweise, die sich an den Zäsuren, wie sie durch die zunehmende Verfolgung der Betroffenen gesetzt wurden, orientiert. Beispiele sollen den Verfolgungsprozess illustrieren.

 

Dani Kranz

PhD, MA Social Anthropology, BA Cultural Studies, London

Narrative Re/Konstruktion einer jüdischen Identität

Im Zentrum dieses Vortrages steht eine Person teil-jüdischer Herkunft, die ich Nora nennen werde. Die Mutter von Noras Vater war Jüdin, ihr Vater wurde als Kind Anfang der 30er Jahre protestantisch getauft, er konvertierte zum Katholizismus um Noras Mutter zu heiraten. Noras jüdische Großmutter starb bevor Nora geboren wurde. Zu den Geschwistern ihres Vaters hat Nora keinen Kontakt, noch weiß sie etwas von ihm über seine Familie, ihn selber kann sie laut eigenen Angaben nicht auf seine Familie ansprechen, er verweigere ihr gegenüber jegliche Auskunft. In der Tat war es Noras nicht-jüdische Mutter, die ihr von ihrer jüdischen Großmutter erzählte und die Nora mit Literatur zum Thema Jüdischsein und Judentum unterstützt.

Aus den Bruchstücken, die Nora im Laufe der Jahre erfahren hat, ergibt sich eine äußerst komplizierte Identitätskonfiguration, da Nora rein faktisch nur in der Lage war, die Namen ihrer Großmutter und ihres Urgroßvater zu ermitteln. Mit diesen beiden Fakten und den wenigen narrativen Bruchstücken, die Nora über ihre Familie erfahren hat, bemüht sie sich, die Vergangenheit zu rekonstruieren und sich selbst eine Identität zu konstruieren. Diese Identität ist komplett narrativ aufgebaut in dem Sinne, dass Nora in ihrem Versuch eine in sich kohärente Identität zu konstruieren ihr faktisches und narratives Wissen um ihre Familie in einen größeren sozio-historischen Kontext setzt um es mit einer für anderen verständlichen Logik zu füllen. Diese Logik läuft entlang zweier Linien. Auf einer persönlichen Ebene, musste ihr Vater getauft werden, da die Katastrophe vorabsehbar gewesen sei; auf der Metaebene benutz Nora Beispiele, die Teil des kollektiven Bewusstseins und der Narrativen von Juden in Deutschland sind. So stellt sie Verbindung zwischen sich, ihrer Familie und anderen Juden und teil-jüdischen Personen her. Es wäre jedoch zu einfach, Noras Sinnsuche auf die Shoah zu reduzieren, Nora bemüht sich, eine positive, zukunftsorientierte und facettenreichen jüdische Identität zu erschaffen, in der Fremdzuschreibungen zwar existieren, aber auf ein Minimum reduziert werden. Interessanterweise gehört die Halacha für sie auch zu diesen Fremdzuschreibungen, da Nora sich durch ihre narratives Konstrukt als jüdisch erfährt und positioniert und es für sie laut eigener Aussage immer irrelevanter wird, ob sie zur Konversion zugelassen wird und somit halachisch jüdisch werden würde.

Ziel dieses Vortrages ist es, über Noras Beispiel die narrative Konstruktion einer Identität nachzuvollziehen, die einhergeht mit der Rekonstruktion der Vergangenheit, um aus der Gegenwart Sinn zu machen und die das Spannungsverhältnis zwischen Eigen- und Fremdzuschreibungen als erlebte Realität erfahren lässt.

 

Ralf Seidel

Dr. med., Facharzt für Neurologie, Psychia­trie und Psychotherapie, bis 2006 Chefarzt der Rheinische Kliniken Mönchengladbach

„Dazwischen“ – Zur Identitätspro­blematik bei jüdischer Herkunft

Wer da zu Hause ist, wo er gerade ist, bei dem scheint alles klar. Dem „Einheimischen“, so könnte man meinen, ist Identität - im Sinne des Dazugehörens - von Anbeginn geschenkt. Er darf glauben, dass er niemand etwas schuldig sei. Er ist da, braucht nichts zu werden.

Der „Andere“, Hinzugekommene, ist es, der vor dem Blick des Heimischen, der an ihm vorbeigeht, zu bestehen hat. Aber er ist es auch, der die zeitliche und räumliche Begrenztheit seiner Existenz erst ans Licht bringt.

Juden leben seit über tausend Jahren in Deutschland. Sie lebten zunächst für sich, unter sich- in Ghettos, oft in der Mitte der Städte. Erst mit der Zeit der Aufklärung und dem Entstehen der Nationalstaaten setzte allmählich ein, wenn auch begrenztes, Dazugehören der Juden in Deutschland ein. Kaum irgendwo sonst war der Weg der „Assimilation“ mit seinem Bemühen um Gleichstellung, Gleichartigkeit und Gleichwertigkeit so vehement beschritten worden, wie hier. Doch sollte dies mit einer Diskreditierung des Unterscheidenden, des Ausser-ordent­li­chen einhergehen.

Und es mündete in eine Einpassung in die vorgegebene gesellschaftliche Ordnung, in die gänzlich aufgenommen zu werden, Juden weiter verwehrt blieb. Und Einordnung sollte sich bald wieder in Unterordnung und – ab 1933 – in Erniedrigung wandeln. So blieb die Ungewissheit des Dazugehörens, des Einsamseins mit doppelter Maske, „des Juden zu Hause und Deutschen auf der Straße“. Spätestens 1935 wurde sie, durch die „Nürnberger Gesetze“ zur Gewissheit des Ausschlusses.

Durch diese Gesetze kam eine weitere Gruppe mit ins Spiel: die sogenannten „jüdischen Mischlinge“. Sie wurden, später fast vergessen, die „privilegierten Rechtlosen“, im und ums Leben Gefährdeten.

In Vortrag und Diskussion soll es um Fragen von Identität und Vielfalt, Ausgeschlossensein und Dazugehören dieser Gruppen – auch anhand von erzählten Schicksalen – gehen. Und um die Frage, ob diese Geschichten - vielleicht Geschichte über­haupt - so etwas wie Sinn ergibt, der uns in unserem Urteilen und Handeln stärken könnte.

 

Nina Kuthan

Qualitätsbeauftragte des Altenzentrums der Henry-und Emma Budge-Stiftung

Workshop – „Die Individualität als Herausforderung“

Mehr als 60 Jahre nach dem Ende des Nazi-Regimes und des Holocaust sind die wenigen Shoa-Über­leben­den im hohen Alter und können nicht mehr für sich selbst sorgen. Die Überlebenden, welche die Schrecken und Gräuel von Verfolgung, Demütigung, Folter und Gewalt erlebt und überlebt haben, werden freilich immer weniger. Jedoch wird die Aufgabe an die Mitarbeiter in der Pflege und Betreuung größer.

Die Pflege und Betreuung von trau­matisierten Menschen geht über das Übliche weit hinaus. Speziell bei Holocaust-Überlebenden bedeutet das, über die mit den historischen Umständen einhergehenden Daten des pflegebedürftigen Menschen informiert zu sein und mit entsprechendem Feingefühl für die Biografie des Traumatisierten vorzugehen. Altersdemenz und Hilfebedürftigkeit bringen oftmals die Barrieren im Kopf zum Fall. Manche alte Menschen fühlen sich in die Vergangenheit zurückversetzt und die Erinnerungen an die Jugend und Kindheit werden zunehmend präsent. Hierbei ist es wichtig zu bedenken, dass jede/r Shoa-Überlebende hat eine individuelle Biografie, die durch das Erlebte unauslöschlich geprägt wur­de und deren Lebensgeschichte von dem erlebten Trauma beeinflusst wurde und wird.

In dem Workshop „Die Individualität als Herausforderung“ wird die Arbeit und Erfahrung in der Henry und Emma Budge-Stiftung in der Pflege und Begleitung beschrieben. Es wird nach einer kurzen Vorstellung der Einrichtung mit einem besonderen Konzept, auf die Wichtigkeit der Biografiearbeit bei Shoa-Überlebenden eingegangen. Im Folgenden werden Fallbeispiele aus der Budge-Stiftung vorgestellt und Besonderheiten in der Pflege u. Betreuung besprochen. Der Workshop setzt auf den Erfahrungsaustausch zwischen den Teilnehmer/ innen durch die Schilderung von verschiedenen Fällen aus der Pflege und Betreuung, die gemeinsam diskutiert werden können. Die Möglichkeiten und Grenzen der pflegerischen Versorgung sollen herausgearbeitet und diskutiert werden.

1. Impulsreferat

    Vorstellung von uns

    Vorstellungsrunde der Teilnehmer

2. Vorstellung Budge-Stiftung Konzept etc.

3. Biografiebogen

4. Darstellung der Fälle

    Diskussion der Fälle in Bezug auf die Biografie

5. Erfahrungsaustausch der Teilnehmer

    Kurze Einzel- oder Gruppenarbeit

    Vorstellen von ähnlichen oder anderen schwierigen Fällen in der Pflege

6. Fazit/ Ergebnis

 

Marie-Louise Buchczik

Diplom Pädagogin, arbeitet als freischaffende Referentin zu pädagogischen und kulturellen Themen, Frankfurt a. M.

„Auf der Suche nach historischen Informationen zu meinen Herkunfts-Familien in der NS-Zeit“ 

Im Workshop werden wir gemeinsam überlegen und Erfahrungen austauschen, wie wir mehr Informationen über die eigenen Herkunftsfamilien in der NS –Zeit herausfinden können.

Bei meiner eigenen Suche habe ich die Erfahrung gemacht, dass obwohl die einfachen Zugänge durch Schwei­gen, Tod und Kriegswirren versperrt sind, das Internet und die vielen Archive trotz der langen Zeit neue Möglichkeiten bei der Recherche eröffnen können.

Vor Ort werden wir die Gelegenheit nutzen können, in die Internetrecherche hinein zu schnuppern.

Neben der konkreten Hilfe zur Recherche wird auch die Gelegenheit bestehen über Gründe und Ziele der Recherche zu sprechen und die hohe emotionale Bedeutung zu thematisieren.

 

Barbara Innecken

Pädagogin, Sprachtherapeutin, seit 1994 in freier Praxis für Psychotherapie (HPG) sowie Lehrtherapeutin und Autorin mit dem Schwerpunkt systemische Therapie und Aufstellungsarbeit, Tutzing

„Sag bloß nicht, dass du jüdisch bist!“ – Aufstellungsarbeit  mit Angehörigen aus Familien mit jüdisch-christlichem Hintergrund

Dieser Workshop bietet Angehörigen aus Familien mit jüdisch-christ­lichem Hintergrund Gelegenheit, den Blick auf ihre Herkunft durch die Möglichkeiten der systemischen Aufstellungsarbeit zu erweitern. Wirkungen, die sich aus der individuellen Familiengeschichte auf das Leben der heutigen Generationen ergeben, können in Aufstellungen sichtbar werden, um einen Prozess der lösenden Schritte zu initiieren. Nach einer Einführung in die Methode haben die Teilnehmer die Möglichkeit, als Beobachter, als Stellvertreter für Familienmitglieder oder mit einem eigenen Anliegen das Aufstellungsgeschehen zu erleben.

 

Abschlussdiskussion 

Norbert Reck (ist leider erkrankt)

Dr. theol., Redakteur der dt. Ausgabe der Zeitschrift "Concilium" und freier Autor, Lehraufträge für Theologie und Philosophie, München

Bis in die dritte und vierte Generation...

Was bedeutet es, wenn ein wichtiges Thema der NS-Auf­arbeitung über Jahrzehnte "vergessen" wird, liegen bleibt oder "übersehen" wird? Ich werde dieser Frage nachgehen in Auseinandersetzung mit dem "Heimsuchungswort" aus Exodus 34,7: Gott "sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern, bis in die dritte und vierte Generation!" (Ex 34,7). Von diesem Wort kann Licht fallen auf intergenerationelle Tradierungsmechanismen und die Realität der Gewalt: Wenn sie einmal in die Welt gebracht wurde, verschwindet sie nie mehr von allein, ihr "Gift" wirkt auch nach Jahrzehnten noch, wenn es nicht unschädlich gemacht und Ausgleich für die Opfer geschaffen wird. Je länger ein Gewaltakt verschwiegen und unter den Teppich gekehrt wird, desto schmerzhafter für die ganze Gesellschaft wird er sich eines Tages wieder bemerkbar machen – in vergifteten Auseinandersetzungen zwischen den Kindern und Enkeln der Opfer und Täter.

Die Geschichte der 300 – 400.000 Christen jüdischer Herkunft gehört zu den über Jahrzehnte verschwiegenen Geschichten: Sie kehrt nun ins Bewusstsein zurück, aber sie endet deshalb nicht automatisch versöhnlich. Gebraucht werden Menschen, die sich als Kinder und Enkel der Täter zu verstehen gelernt haben und bereit sind, aktiv Verantwortung zu übernehmen dafür, dass Recht die Stelle von Unrecht tritt.

Die christlichen Kirchen haben die Ge­schichte der Judenchristen weit­­­­­gehend verschwiegen; sie machten ausgesprochene Kündigun­gen nicht rückgängig und entschädigten die Opfer in den meisten Fällen nicht. An dieser Geschichte zeigt sich, dass vage, allgemein gehaltene Schuldbekenntnisse nichts wieder "gut" machen und auch keine Vergebung ermöglichen – weder durch die Opfer noch durch Gott. Martin Niemöller, der bis ins Tiefste an die Vergebung durch das Kreuz Christi glaubte, wusste zugleich, dass es diese nicht ohne die Umkehr und Verantwortungsübernahme der Menschen gibt: „Es kann keinen dauerhaften Frieden und kein echtes Verstehen unter uns Menschen geben ohne Gerechtigkeit; es geht nicht anders, wenn wir zueinander finden wollen, als dass das Unrecht, das sich zwischen uns schiebt, aufgedeckt wird.“

 

Stephan Linck

Dr. phil., Historiker, Nordelbisches Kirchenarchiv Kiel, Beauftragter für die Gedenkstättenarbeit der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Kiel

Kirchliche Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus nach 1945. Ein Blick auf die ersten Nachkriegsjahrzehnte

Der deutsche Begriff Schuld bezeichnet, das wofür im Lateinischen zwei Worte – Causa und Culpa – verwendet werden, also Schuld im Sinne von Ursache und moralische Schuld. In beiderlei Sinne muss der Völkermord am europäischen Judentum, seine Vor- und auch Nachgeschichte zentraler Bestandteil kirchlicher Erinnerungskultur sein. Dies betrifft vor allem die Christen jüdischer Herkunft und zwar einzig, weil hier zusätzlich zu ohnehin bestehenden Schuld die zusätzliche des „Verrats“ an den eigenen Gliedern der Gemeinde vorlag.

Am Beispiel der schleswig-holstei­nischen Landeskirche wird kurz dargestellt, wie die Beauftragung mit der Betreuung von Christen jüdischer Herkunft in der frühen Nachkriegszeit aussah. Es wird der Fall des 1936 zwangspensionierten Pastors Walter Auerbach dargestellt, an dessen Person der Betreuungsauftrag nach 1945 gekoppelt war. Als Ausblick schließt sich ein Blick auf eine kleine Kontroverse im Hamburgischen Kirchenrat anlässlich der Eröffnung der Neuen Synagoge 1960 an. Mit beiden Beispielen wird die fehlende Reflexion bzw. Reflexionsbereitschaft thematisiert, die die ersten Nachkriegsjahrzehnte kennzeichnete. Es soll dargelegt werden, dass ein „Abschließen“ dieses Kapitels der jüngsten Kirchengeschichte allein deshalb unmöglich ist, weil es noch gar nicht bearbeitet worden ist.

 

Detlev Landgrebe

Dr iur., Notgemeinschaft der von den Nürn­berger Gesetzen Betroffenen, Hamburg

Gedanken und Fragen für die Podiumsdiskussion „Zu einer Kultur der Erinnerung“.

1.) Welche Bedeutung hat im Rahmen des Gedenkens an die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden die Auseinandersetzung mit der Minderheit der rassisch Verfolgten nicht-jüdischen Glaubens in Deutschland?

Die Personen, die durch die Nürnberger Gesetze betroffen waren, sind von den Nazis willkürlich nach rassistischen Kategorien definiert worden, obwohl sie nichts miteinander verband, als dass sie jüdische Großeltern hatten. Die Betroffenen waren evangelische oder katholische Christen oder Atheisten. Nur ein Elternteil war jüdisch oder jüdischer Herkunft. Nur wenige hatten noch einen Bezug zum jüdischen Glauben. Die meisten wurden davon überrascht, durch die Nürnberger Gesetze wieder auf ihre Jüdischkeit verwiesen zu werden.

Diese Personen sind nur dadurch miteinander verbunden, dass sie durch die Nürnberger Gesetze betroffen waren. Darüber hinaus gibt es nichts Gemeinsames.

Bürokratisch gesehen ist die einzige Gemeinsamkeit dieses Personenkrei­ses der  Wiedergutmachungsan­spruch gegenüber dem Staat bzw. bei dem Härtefonds für rassisch Verfolgte nicht jüdischen Glauben einen Antrag auf Beihilfe zu stellen.

Es gibt keine Basis für ein kollektives Gedächtnis an die durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen.

Daher halte ich eine Kultur der Erinnerung der durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen als kollektives Gedenken wie z. B. der Juden, der Roma und Sinti, der Homosexuellen usw. für ausgeschlossen. Niemand könnte sich unter einem derartigen Gedenken etwas vorstellen. Der einigende Begriff fehlt.

Auf die Dauer bleibt nur die Kirche als Ort für eine Auseinandersetzung mit den durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen und zuwar bezogen auf den engeren Kreis der „Judenchristen“. Das Versagen und der Verrat gegenüber ihren Glaubensbrüdern jüdischer Herkunft muss ein Thema für Auseinandersetzung der Kirchen mit ihrer Geschichte bleiben (vgl. für die nordelbische Kirche die Arbeiten von Stephan Linck u.a. und das 4 bändige Werk von Eberhard Röhm und Jörg Thierfelder ‚Juden-Christen-Deut­sche‘) .

Von meinen Überlegungen zum kollektiven Gedächtnis der „Halbjuden“ bleibt natürlich unberührt die individuelle Auseinandersetzung mit dem  Verfolgungsschicksal.

2.) Praktische Fragen

Was wird aus der Notgemeinschaft? Was wird aus den anderen Vereinen und Verbänden, die sich bisher dank des Engagements der Überlebenden gegen das Vergessen engagiert haben.

Ist es vertretbar, sich als Organisation ehemals Verfolgter mit dem Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge zusammen zu schließen?

Oder ist es besser, die Notgemeinschaft mit meinem Ausscheiden einfach verschwinden zu lassen?

Wie entwickeln sich die offiziellen Gedenkveranstaltungen, wenn die ehemals Verfolgten nicht mehr präsent sind? Die staatlichen Organe werden für die Gedenkveranstaltungen bald keine Ansprechpartner mehr haben. Werden die jüdischen Gemeinden auf Dauer gesehen dem Staat gegenüber die einzigen Träger der Erinnerung an die Schoah sein?

 

Walter Sylten

Hilfswerk für die von den Nürnberger Gesetzen Betroffenen nicht jüdischen Glaubens, Berlin

Geschichte und Aufgabe der Evangelischen Hilfsstelle für ehemals Rasseverfolgte

Die Ev. Hilfsstelle wurde im Sommer 1945 in Berlin von Propst Heinrich Grüber neu geschaffen in Nachfolge des von ihm bereits von 1938 bis 1941 geführten „Büro Pfarrer Grüber“, das bis zu seiner Schließung durch die GESTAPO vornehmlich evangelische Christen jüdischer Herkunft seelsorgerisch und sozial betreute und mit den Vertrauensstellen in allen größeren Städten des Reichsgebietes und mit der jüdischen Reichsvereinigung, den katholischen Hilfsbüros und den Quäkern in regelmäßigem Erfahrungsaustausch stand. Die Auswanderungsberatung, die schulische Betreuung der an keiner öffentlichen Schule geduldeten Kinder und Jugendlichen sowie die Betreuung alter Betroffener hatten einen großen Anteil an der Gesamttätigkeit des Büro Pfarrer Grüber.

Die Hilfsstelle hatte die Rechtsform einer selbständigen Stiftung. Sie fühlte sich der evangelischen Kirche verbunden und ist auch Mitglied des Diakonischen Werkes – ist und war aber stets völlig unabhängig. Insbesondere erhielt sie keinerlei laufende Zuwendungen aus kirchlichen oder staatlichen Quellen.

Die Hilfsstelle hatte in den ersten Nachkriegsjahren einen sehr großen Betreutenkreis – täglich ein- bis zweihundert Besucher, vornehmlich aus dem noch ungeteilten Berlin und den Randgebieten oder von Remigranten, die aus den jetzt polnisch verwalteten Gebieten, aus der sowjetischen Besatzungszone oder aus Berlin ins Ausland geflüchtet waren und nun wieder zurückkommen wollten. Der Versuch, eine deutschlandweite Arbeitsgemeinschaft aller Hilfsstellen zu organisieren, scheiterte an der Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen und den Schwierigkeiten des Reiseverkehrs.

Die Hilfsstelle half durch Vermittlung staatlicher sozialer Hilfen und – später auch bei der Durchsetzung von Entschädigungsforderungen.

Eine Hauptaufgabe der Hilfsstelle war die Gründung und das Betreiben von Altenheimen für die Betreuten. Insbesondere in den ersten Nachkriegsjahren befürchteten viele, dass sie als alt gewordene Menschen gezwungen sein sollten, mit Antisemiten, gar mit ehemaligen Tätern in einem Heim zusammen wohnen zu müssen. Das 1959 neu gebaute Heinrich-Grüber-Haus wur­de ergänzt durch eine Krankenanstalt für chronisch Kranke auf dem gleichen Grundstück. Die Idee war, dass auch gebrechlich gewordene ehemals Verfolgte die ihnen vertraut gewordene Heimstatt nicht verlassen müssten, sondern die sozialen Bezüge aufrecht erhalten bleiben könnten. Unsere Heime waren vorbildlich ausgestattet und wurden in Respekt gegenüber dem Schicksal der meisten Heimbewohner geführt. In den 70er Jahren mussten dann aber auch andere Menschen vornehmlich aus der Nachbarschaft aufgenommen werden, weil die bis dahin üblichen Wartelisten erschöpft waren, die Plätze aber mussten belegt sein, um die Wirtschaftlichkeit aufrecht erhalten zu können. Unser Name als Heimträger gab wohl die Sicherheit, dass wir von offenen oder versteckten Antisemiten verschont blieben. Zuletzt sahen wir uns gezwungen, die Heime an einen diakonischen Träger zu verkaufen. Da die wirtschaftliche Führung eines mittelgroßen Heimes ohne größeren Verbund nicht sichergestellt werden konnte, musste der alljährliche Verlust von uns als Träger übernommen werden. Da aber der Anteil an ehemals Verfolgten unter den Heimbewohnern ständig  abnahm, blieb uns keine andere Möglichkeit. Die neuen Träger setzen aber nicht nur entsprechend dem Kaufvertrag, sondern auch in der Praxis die Tradition der Heime fort.

 

Hartmut Schmidt

Mitinitiator des "Projekts zur Erforschung und Erin­nerung an das Schicksal evangelischer Christen jüdischer Herkunft in der NS-Zeit" in der EKHN und EKHW

Ein zweijähriges Forschungsprojekt der beiden evan­gelischen Kirchen in Hessen zum Schicksal der Christen jüdischer Herkunft und den Umgang der Kirchen mit ihnen in der NS-Zeit und nach 1945 wird zum 1. April beendet. In welcher Form es weiter geführt wird, ist noch offen. Einer wesentliche Grundlage werden die nahezu 1.500 Fragebögen sein, die 1946 bei der damals gegründeten Frankfurter „Hilfsstelle für ehemals rassisch verfolgte Christen“ von dieser Verfolgtengruppe eingereicht wurden. Nun sollen die Forschungsergebnisse den Gemeinden nahegebracht werden, um sie zur Weiterarbeit bei sich (Kirchenbücher, Zeitzeugen, Erinnerung) zu gewinnen, eine Art gemeindlicher Bildungsarbeit. Erster Ansatz war ein Gemeindegottesdienst zum 70. Jahrestag der „Kristallnacht“ mit Tauferinnerung an die in der Gemeinde in den 20er und 30er Jahren getauften und konfirmierten Christen jüdischer Herkunft.

 

Angelika Rieber

Historikerin, Lehrerin, Projekt "Jüdisches Leben in Frankfurt" (Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (CJZ) gemeinsam mit dem Hessischen Kultusministerium (HKM) und der Stadt Frankfurt

Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft.  Einige Überlegungen zur Bedeutung der Erinnerungsarbeit in der Schule

Erinnerungsarbeit ermöglicht und fördert

-  die Kenntnisnahme der Verbrechen der NS-Zeit, die Abgrenzung von ihnen

-  und die gleichzeitige (Neu)Besin­nung auf die Werte der Gesellschaft (Würde, Gleichheit etc.)

-  die Reflexion des eigenen Verhaltens in der NS-Zeit

-  und des Umgangs mit der Vergangenheit heute

-  das Gedenken an die Opfer des NS-Regimes

-  und die Anerkennung des Leids der Verfolgten und deren Angehörigen in der Gegenwart

-  die Untersuchung der Ursachen und Hintergründe der Verbrechen

-  und der möglichen Konsequenzen für das Handeln in der Gegenwart

Daraus leiten sich folgende Schwerpunkte für die Thematisierung der NS-Zeit in der Bildungsarbeit ab:

Die Beschäftigung mit Menschen und Biographien stellt eine angemessene Antwort auf den entwürdigenden und mörderischen Rassismus der Nationalsozialisten dar. Die Opfer erhalten so einen Namen und ein Gesicht. Lebenswege von Menschen ermöglichen eine emotionale Nähe, die Interesse weckt, Fragen aufwirft und auf der eigenen Vorstellungskraft aufbaut.

Auch der Verbindung von Lebensgeschichten mit Orten kommt besondere Bedeutung zu, seien es Orte im nahen Umfeld (beispielsweise die eigene Schule, Wohnhäuser oder Geschäfte früherer jüdischer Bewohner, jüdische Friedhöfe, frühere Synagogen, Gefängnisse, Hinrichtungsorte) oder KZ- Gedenkstätten wie Buchenwald. 

Biographien und die mit ihnen verbundenen Orte beschäftigen sich mit Grundfragen menschlichen Zusammenlebens und den jeweils zugrunde liegenden Werten. Sie erleichtern die Entwicklung eines differenzierten Bildes von der Vergangenheit, denn sie veranschaulichen eine Vielfalt unterschiedlicher Perspektiven und Verhaltensoptionen, Entscheidungen und Fehlentscheidungen der damals handelnden Menschen.

Eine solche Annäherung an das historische Geschehen bietet zudem zahlreiche Anknüpfungsmöglichkeiten an eigene Erfahrungen bzw. Fa­miliengeschichten, unter Umstän­den Antworten auf eigene Fragen, und kann dazu beitragen, die oft bestehende Kluft zwischen privater und öffentlicher Erinnerung zu überwinden. Gleichzeitig wird mit diesem Ansatz der Blick geöffnet für die Beschäftigung mit gemischten Identitäten, beispielsweise Christen jüdischer Herkunft oder „Halbjuden“. Angesichts der kulturellen Vielfalt der Schülerschaft heute ist ein solches multiperspektivisches und biographisches Herangehen von besonderer Bedeutung.

Begegnung und Dialog, beispielsweise mit Zeitzeugen der NS-Zeit, ermöglichen eine lebendige Erinnerungsarbeit. Sie beschäftigen sich nicht nur mit der Vergangenheit, sondern vor allem mit den Nachwirkungen, auch auf die folgenden Generationen. Die Kenntnisnahme von jeweils unterschiedlichen Lebens- oder Familiengeschichten, von Verletzungen, Ängsten oder Sorgen ermöglicht es, das Handeln oder die Reaktionen der anderen Seite besser zu verstehen. Insofern hat der Dialog auch dann große Bedeutung, wenn die Zeitzeugen der NS-Zeit nicht mehr da sind, denn er ist gerade für die nachfolgenden Generationen eine wichtige Voraussetzung für die gemeinsame Gestaltung der Zukunft.

In diesem Sinne bilden Erinnern und Gedenken Brücken zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

 

Wolfgang Krogel

Dr., Leiter des Evangelischen Landeskirch­lichen Archivs und Geschäftsführer des Kirchenleitungsausschusses Erinnerungs­kultur, Berlin

Das Archiv als institutionalisierter Ort der Geschichts- und Erinnerungskultur

Das Archiv: Zunächst Teil der Verwaltung als „Referat für Archivwesen“; seit 1995 mit wissenschaftlich-fachlicher Leitung; seit 2000 fester Standort mit geregelten Öffnungszeiten gemeinsam mit anderen kirchlichen Archiven.

Seit jeher ist das Archiv der Ort für Kirchengeschichte, Zeitgeschichte und Erinnerungsarbeit:

Geschichte des Kirchenkampfes, Zwangsarbeit in der Kirche, Christen jüdischer Herkunft, AG Zeitgeschich­te aus der Perspektive kirchenleitender Persönlichkeiten, Wieder­vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten 1990. Kirchenleitungsausschuss „Erinnerungs­kultur“ Arbeitsstelle Erinnerungskultur beim Archiv.

Thesen zu den gemachten Erfahrungen:

Die Neigung und Eignung des vorhandenen Personals ist zu berücksichtigen, weil Einstellungen in diesem Bereich auf der Ebene der Landeskirche kaum möglich sind.

Die Geschichte der Kirche gehört zu ihrem langfristig angelegten Selbstverständnis. Es muss darauf geachtet werden, dass dabei die Frage­stellungen und Methoden der Geschichtswissenschaft Anwendung fin­den.

Erinnerung in der Form des bestätigenden, kommunikativen Handelns wird auch über mehr als drei Generationen aufrechterhalten, wenn traumatische Erfahrungen zugrunde liegen.

Erinnerung ist nicht nur eine mentale Leistung, sondern bedeutet auch Konfrontation mit dem Verdrängten, mit den Strategien und den Akteuren der Verdrängung. Erinnerung ist auf Akteure der Erinnerung angewiesen.

Die Erinnerungsarbeit erzeugt sichtbare und haltbare Ergebnisse und Formen des Gedenkens. Das Erinnern versucht sich dadurch, auf unbegrenzte Dauer zu stellen. Dagegen steht das ereignisgelenkte Erinnern zu bestimmten Anlässen. Der Anlass bündelt Energie, die zum Anlass konsumiert wird.

Die Erinnerungsarbeit mit Zeitzeugen bedarf methodischer Überlegungen, kritischer Wertung und Rück­sichten auf die aktuelle Lebens­wirklichkeit der Erzählenden. Im Sinne von Begegnungsarbeit ist diesem Aspekt der Erinnerungskultur eine besondere Priorität z.B. bei der Arbeit mit Jugendlichen einzuräumen wegen des schnellen zeitlichen Verfalls und der Intensität der Erfahrung für alle Beteiligten.

Zur Erinnerungsarbeit gehört, die historischen Quellen kritisch einzubeziehen und nachzuweisen. In der historischen Erwachsenenarbeit sind für die Dokumentationen die Maßstäbe der historisch-wissen­schaftli­chen Arbeit anzulegen, damit nachvollziehbare Ergebnisse erzielt werden können. In Abweichung davon müssen sich Vorträge, Ausstellungen, Broschüren und andere Medienerzeugnisse an den Zielgruppen, deren Vorwissen und Erwartungen orientieren.

Sind erst einmal Themen erfolgreich gesetzt worden, wird das Archiv durch die Erwartungen der ehrenamtlich besetzten Arbeitsgruppen schnell überfordert. Hier ist es wichtig, immer wieder die notwendigen Arbeitsteilungen vereinbaren. Die hauptamtlich besetzte Stelle übernimmt dann meistens Koordinationsaufgaben. Diese können aber manchmal besser von Ehrenamtlichen übernommen werden.

Gelegentlich sollte sich die kirchliche Hierarchie einschalten, um die Wertschätzung der Kirchenleitung für die geleistete Arbeit zu vermitteln.  

 

Martin Stöhr

Prof. Dr., 1986-1998 Professor für systematische Theologie in Siegen, leitete 8 Jahre den International Council for Christians and Jews (ICCJ) und war Mitgründer von "Studium in Israel", seit 1995 Vorsitzender der Martin-Niemöller-Stiftung e.V.

Gerechtigkeit erhöht ein Volk – zu einer Kultur der Erinnerung

„Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun.“ (Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung)

“Ohne Divinität gibt es keine Humanität“ Nach dem Ersten Weltkrieg folgte kein  „metaphysisches Erwachen, sondern ein ganz dicker und dichter Schlaf, während dessen der Mensch den souveränen Geist für ein Abfallprodukt seiner Wirtschaftsordnung oder einer biologischen Zugehörigkeit hielt.“ (Franz Werfel 1939 in Paris)

“Erinnerung ist die Amme der Hoffnung“ (Dorothee Sölle / Fulbert Steffensky: Wider den Luxus der Hoffnungslosigkeit)

„Die jüdische Bibel ist die reichste Erinnerungsbewahrerin, die freigebigste Erinnerungsspenderin der Menschheit; wenn irgendwer, wird sie uns lehren, uns wieder zu erinnern“ (Martin Buber: Warum gelernt werden soll, 1963)

Erinnern findet mitten in der laufenden Geschichte statt, in der Überlebende der Schoah, ihre Nach­kommen und ihre Erinnerungen präsent sind – aber auch die Täter mit ihren (oft den „Grossvater“ entschuldigenden) Nachkommen und beschönigenden Erinnerungen. In diesem Kontext lebt die christliche Gemeinde, die ihre getauften Mitglieder aus jüdischen Familien (wie die Jüdinnen und Juden in der Nachbarschaft) im Stich ließ, als die sonntäglich im Credo bekannte Communio Sanctorum vor ihrer größten Herausforderung stand – und scheiterte:

·   wirklich eine Gemeinde zu sein, in der Menschen unterschiedlicher Herkünfte eins (Gal 5,6) in Christus sind,

·   in der alle leiden, wenn ein Glied leidet (1Kor12,26),

·   in der zu erfahren wäre, dass die „Pforten der Hölle“ (Mt 16,18) nicht die Gemeinde, wohl aber die Individuen, leicht überwinden können, als Menschen, oft Gemeindeglieder, organisierten oder duldeten, dass die „Höllentore“ erst die der Gleichgültigkeit, dann die  von Riga, Gurs, Auschwitz oder Theresienstadt weit geöffnet wurden,

·   in der Menschen gegen die eigenen kleinen Feigheiten des Alltags mit kleinen Tapferkeiten helfen und bedrohtes Leben retten,

·   indem sie für Recht eintreten, als es mit Füssen getreten wurde,

·   indem sie für die Wahrheit stehen, dass jeder Mensch ein kostbares Ebenbild Gottes ist, als die Lügen über Völker, Rassen, Kulturen, Gehorsam und Gewalt wissenschaftlich, medial und alltäglich im Umlauf waren.

Was als Versagen zu nennen ist wird im Umkehrschluss, als Negation des Negativen, zu Wegweisern in die Zukunft.

Das Wort Sachor! Gedenke! ist ein biblisches  und gottesdienstliches Hauptwort. Es hat eine „Tendenz zur Tat hin“ (W. Schottroff). Erinnern hat einen langen Atem. Juden oder Christen lesen z. B. die Erinnerungen an den Exodus oder an den Märtyrertod des Juden Jesus von Nazaret als „Memorbücher“, die heutige Einsicht ebenso suchen wie Wege in eine (verbesserliche) Zukunft. Das gilt für die positiven Erinnerungen von schützender oder Leben rettender Solidarität, z. B. durch den keineswegs an Israels Gott glaubenden, aber Israel aus Babylon befreienden „Messias“ Kyros  (Jes 45,1) oder durch den Barm­herzigen Samariter (Lk 10,25ff) wie für die verweigerten Nachfolge-Gottes- oder Nachfolge-Christi-Ta­ten z.B. Amalek (Dtn 25, 17-19), Jona, Petrus, Judas oder Ananias und Saphira (ApGesch 5,1ff). Weder werden Schandtaten der Menschen noch ihre Menschlichkeiten (z. B. von Helene Jacobs, Gertrud Luckner oder Elisabeth Schmitz) vergessen oder verdrängt.

Wo sind die „Zeichen / Denkmäler und Namen“ (Yad VaSchem, nach Jes 56,5) in den christlichen Gemeinden, die sehr genau an die Vergessenen und Ermordeten genau erinnern? Kriegerdenkmäler sind wie die Tafeln und Reden über die „Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ abschreckende Beispiele einer Erinnerungskultur. Was erfordert eine seelsorgerliche, eine therapeutische Dimension des Gedenkens? Gibt es ein heilendes Vergessen?

 

 

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Kontakt:  Brigitte Gensch

 

 

 

 

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